Montreal, Kanada, 18. November 1968. Sechs Piloten und Flugingenieure sitzen nach getaner Arbeitim Holiday Inn-Hotel. Werner Joost, Helmut Hyrenbach, Jürgen Paasche, Karl-Heinz Pauer, Hans-Jörg Breitscheidel und Bernd-Egon Voelkel debattieren den ganzen Abend und unterzeichnen dann eine Erklärung. Wie viele ihrer Kollegen sind sie unzufrieden: Die Verkehrsluftfahrt expandiert, Piloten werden gebraucht und sind viele Stunden in der Luft. Sie ärgern sich aber über Bürokratie bei den Airlines und in den Behörden. Sie möchten endlich ihre Arbeitsbedingungen mitgestalten und als Fachleute zu den Problemen ihres Berufs gehört werden. Nun rufen sie die »Aktionsgemeinschaft Cockpit« ins Leben.
Kurz zuvor haben die Deutsche Lufthansa und die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), der viele Piloten angehören, einen dreijährigen Tarifvertrag vereinbart – allerdings »gegen den erklärten Willen des fliegenden Personals«. Anders als die meisten ihrer internationalen Kollegen sind die deutschen Piloten nicht in einem eigenen Berufsverband organisiert. Das wollen sie jetzt ändern: Jeder der Männer verspricht, rasch zwei neue Mitglieder zu werben, die wiederum weitere Kollegen gewinnen sollen. Die Aktion »Schneeball«, wie sie ihr Vorhaben halb im Scherz, halb im Ernst nennen, kommt ins Rollen.
Einige Wochen später, kurz vor Weihnachten, bittet Werner Joost, Flugingenieur und einer der Initiatoren der »Aktionsgemeinschaft«, seine Kollegen in einem Rundschreiben um Unterstützung. »Wir brauchen eine Cockpit-Vereinigung!«, heißt es darin. »Wir müssen das Gruppendenken, kleinliche Tarifdifferenzen, Goldstreifen-Prestige und Flotten-Konkurrenz abbauen!« Der Aufruf ist erfolgreich: Im Januar 1969 zählt die Aktionsgemeinschaft 48 Unterzeichner, rasch kommen viele weitere hinzu. Nur wenige Wochen später wird aus den Plänen ein fester Zusammenschluss.
Am 11. März 1969 treffen sich 132 der inzwischen 285 Unterstützer im Bad-Hotel in Oberursel bei Frankfurt am Main und gründen die Vereinigung Cockpit (VC). Sie soll als Berufsverband die Interessen von Piloten, Flugingenieuren und Navigatoren gegenüber Fluglinien, Behörden, dem Gesetzgeber und der Öffentlichkeit vertreten. Zum ersten Vorstand gehören Hans-Dieter Gades als Präsident, Werner Joost, Dieter Klein, Wolfgang Rösch, Wolfgang Steinbach, Jan Brouwer und Dirk Schwiezer. Sie verstehen sich selbst als »unbequeme Mahner« und fühlen sich dem Luftverkehr und seiner Sicherheit verpflichtet.
Zunächst konstituieren die Gründungsmitglieder einen Beirat, entwerfen einen Etat und richten eine Geschäftsstelle ein. Sie kümmern sich um Rechtsschutz und Rechtsberatung und wollen nun vor allem weitere Mitglieder gewinnen. Schnell setzen sie die inhaltlichen Schwerpunkte: Die ersten Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit Flugsicherheit und Dokumentation. Die VC ist äußerst umtriebig und verzeichnet kaum zwei Wochen nach der Gründung einen ersten Erfolg. Am 23. März 1969 werden bei der Deutschen Lufthansa neue Personalvertreter gewählt, die VC empfiehlt dafür 39 Kandidaten – und alle werden gewählt.
Gleichzeitig drängen die VC-Mitglieder in die Gremien des Luftfahrtbundesamtes. Hier wollen sie die Richtlinien und Regularien mitgestalten, die sie direkt betreffen. Es geht vor allem um eine große Gefahr: Flugzugentführungen. Allein in den 1960er Jahren werden 14 Mal Flugzeuge von politischen Gruppierungen gekapert. Dem Problem des »Hijacking« widmet sich 1969 die Jahreskonferenz der International Federation of Air Line Pilots’ Associations (IFALPA), der weltweite Zusammenschluss aller nationalen Pilotenverbände. Dort präsentiert sich die VC erstmals international und knüpft Kontakte zu den Kollegen aus aller Welt.
Die ÖTV betrachtet das vielfältige Engagement der VC mit Argwohn. Die Gewerkschaft sieht in dem neuen Verband einen Konkurrenten, insbesondere in der Tarifpolitik. Daher schlägt die VC eine strikte Aufgabenteilung vor: Die ÖTV ist für die tarifpolitische, die VC für die berufsständische Arbeit zuständig. Nach langen Verhandlungen unterzeichnen beide Parteien am 19. Januar 1970 in Stuttgart ein Abkommen. Dies entspannt das Verhältnis der beiden Organisationen – vorerst.
Denn schon im Jahr darauf organisiert die ÖTV einen zehntägigen Streik des Bodenpersonals als Protest gegen die von der Bundesregierung im Oktober 1970 beschlossenen »Lohnleitlinien«. Das Wirtschaftsministerium hat für Angestellte im Öffentlichen Dienst eine Lohn- und Gehaltsverbesserung von höchstens acht Prozent festgelegt, orientiert an der Teuerungsrate und dem erwarteten Produktivitätszuwachs.
Der Bund als Hauptaktionär fordert die Lufthansa auf, den Kabinettsbeschluss zu unterstützen – offenbar »eine Probe aufs Exempel für die gesamte Lohnpolitik 1971«, wie eine Zeitung die rigide Haltung der Bundesregierung interpretiert.
5000 von 15.000 Beschäftigten des Lufthansa-Bodenpersonals treten in den »Bummelstreik«, melden sich später geschlossen krank und legen damit den Flugverkehr weitgehend lahm. 40.000 Flüge fallen aus, beinahe 80.000 Maschinen starten mit Verspätung. Eine Kommission um den Industriellen Willy Schlieker hilft schließlich, den Konflikt beizulegen. Die ÖTV erreicht 15,9 Prozent Lohn- und Gehaltssteigerungen für ihre Mitglieder.
Die VC indes sieht den Arbeitskampf sehr kritisch. Sie unterstützt zwar die Forderung nach einer besseren technischen Ausrüstung für die Flugsicherung und einer gerechtere Entlohnung gleichqualifizierter Mitarbeiter. Aber sie hält den Arbeitskampf, der sich über ein halbes Jahr hinzieht, für überzogen und kritisiert die Fluglotsen, weil sie durch ihren »Dienst nach Vorschrift« die Flugsicherheit gefährdeten. Das führt auch zu Spannungen zwischen der VC und der ÖTV, die den Protest der Fluglotsen vorantreibt. Die ÖTV schlägt schließlich eine Änderung des Abkommens mit der VC vor, während diese mit neuen Vorschlägen versucht, das Verhältnis zu verbessern. Doch die Differenzen sind zu groß: Am 18. Februar 1972 geben die beiden Organisationen ihre Kooperation auf. Die VC sieht sich nach einem anderen Partner um und vereinbart Ende 1973 schließlich ein Abkommen mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG).
Nairobi, Kenia, 1974. Am Morgen des 20. November setzt der Jumbo »Hessen« mit der Flugnummer LH 540 um kurz vor 7 Uhr auf der Landebahn des Jomo Kenyatta International Airport auf. Ein kurzer Tankstopp für die Boeing 747 der Lufthansa, rasch soll es weitergehen nach Südafrika. Der Jumbojet, seit 1970 auf dem Markt, ist damals das größte Passagierflugzeug der Welt. Der US-amerikanische Verkaufsschlager mit dem charakteristischen Buckel am Cockpit gilt als eines der sichersten Flugzeuge, die je gebaut wurden – bis zu jenem Novembermorgen.
Flugkapitän Christian Krack und Co-Pilot Hans-Joachim Schacke starten die Triebwerke, um 157 Menschen an Bord ans Ziel zu bringen. Der Riese rollt auf die Startbahn 24 des Airports und hebt um kurz vor 8 Uhr mit 251 Stundenkilometern von der Piste ab. Doch plötzlich schwankt der Jumbo heftig, Gepäck fällt aus den Ablagen, das Flugzeug kommt über 35 Meter Höhe nicht hinaus – und schlägt einen guten Kilometer hinter der Startbahn auf. Rund 100 Meter weiter reißt der Jumbo eine Brücke mit und kommt einen weiteren halben Kilometer später zum Stehen. 54 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder sterben bei dem Crash.
Für die Öffentlichkeit ist der erste Absturz eines Jumbojets ein Schock. Die Lufthansa gibt den Piloten die alleinige Schuld an dem Absturz und kündigt ihnen, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind. Die VC schickt eine Delegation nach Kenia und bietet den Piloten und dem Flugingenieur, allesamt VC-Mitglieder, Rechtsschutz und fachliche Beratung an. Das Strafverfahren gegen den Flugingenieur endet mit einem Freispruch, die fristlose Kündigung der beiden Piloten wird aufgehoben, weil die Untersuchungen nicht beendet, technische Defekte also noch nicht ausgeschlossen waren. Die Untersuchung ergibt schließlich, dass neben den Fehlern der Crew fehlende Warnsysteme und lückenhafte Verfahren zu dem Unglück führten. Die Lufthansa installiert daraufhin ein Warnsignal des Herstellers Boeing und nimmt weitere technische Veränderungen vor.
Doch nicht nur spektakuläre Unfälle beunruhigen die VC. Sie registriert Mitte der 1970er Jahre mehr und mehr Beinahe-Zusammenstöße insbesondere mit Militärflugzeugen und regt ein Incident-Reporting-System für kritische Vorkommnisse in Deutschland an. 1976 führt die VC ein eigenes System ein.
Inzwischen nehmen die VC-Mitglieder regelmäßig an nationalen und internationalen Fachsymposien teil. Insbesondere bei der IFALPA-Jahreskonferenz spielt die VC eine immer größere Rolle. Ihre Mitglieder gelten als kompetent und der Verband ist mit mehr als 1500 Mitgliedern zu einem der stärksten Verbände weltweit angewachsen. Auch auf europäischer Ebene weitet die VC ihre Kooperationen aus: Am 11. Mai 1976 tritt sie dem Pilotenverband EUROPILOTE bei, um ihren Sachverstand auch auf europäischer Ebene einzubringen.
13. Oktober 1977. Vier Mitglieder des »Spezialkommandos der Volksfront für die Befreiung Palästinas« (PFLP) besteigen in Palma de Mallorca die Lufthansa-Boeing »Landshut«. Der Flug LH 181 steuert Richtung Frankfurt am Main, doch im französischen Luftraum bringen die vier Palästinenser – zwei Männer und zwei Frauen – die »Landshut« unter ihre Kontrolle. Sie haben zwei Pistolen, Handgranaten und Sprengstoff an Bord geschmuggelt und zwingen den 37-jährigen Kapitän Jürgen Schumann zum Kurswechsel nach Rom. Dort lassen die Terroristen die Maschine auftanken und ihr Anführer, der sich Kapitän Märtyrer Mahmud nennt, fordert die Freilassung von elf in Deutschland inhaftierten RAF-Terroristen, zweier Gesinnungsgenossen in türkischer Haft sowie 15 Millionen US-Dollar. Die Freilassung der RAF-Mitglieder hat bereits das RAF-Kommando verlangt, das am 5. September den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer in Köln entführt hat. Der Irrflug der »Landshut« dauert mehrere Tage, immer wieder muss die Besatzung zwischenlanden und auftanken. Bundeskanzler Helmut Schmidt bleibt, wie schon bei der Schleyer-Entführung, bei seiner Linie, nicht auf die Forderungen der Terroristen einzugehen. Am 16. Oktober landet die Maschine in Aden im damaligen Südjemen auf einem Sandstreifen neben der Landebahn. Kapitän Schumann erhält die Erlaubnis, das Fahrwerk zu inspizieren. Als er nach einer Stunde wieder ins Flugzeug kommt, erschießt Mahmud den Piloten im Mittelgang des Flugzeugs.
In den Morgenstunden des 17. Oktober steuert Co-Pilot Jürgen Vietor die Maschine in Richtung der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Dort drohen die Entführer, die »Landshut« in die Luft zu sprengen, sollten die RAF-Mitglieder nicht bis 15 Uhr aus der Haft entlassen werden. In Verhandlungen erreicht die Bundesregierung eine mehrmalige Verlängerung des Ultimatums, bereitet unterdessen aber die Befreiung der Geiseln vor. Für solche Aufgaben gibt es seit den Terroranschlägen bei den Olympischen Spielen 1972 in München die GSG 9, eine für die Terrorabwehr gebildete Spezialeinheit der Bundespolizei. Am 18. Oktober um kurz nach Mitternacht startet die Operation, die Spezialkräfte töten drei der vier Entführer. Wenig später werden die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen im Gefängnis in Stuttgart-Stammheim gefunden. Am Tag darauf entdecken Ermittler die Leiche von Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos im elsässischen Mülhausen.
Der Weltpilotenverband IFALPA fordert für den 25. Oktober einen weltweiten Pilotenstreik, damit die UNO endlich etwas gegen Flugzeugentführungen unternimmt – in den 1970er Jahren werden weltweit immerhin fast 60 Flugzeuge gekapert. Die VC schließt sich der Initiative an, die jedoch letztlich ausgesetzt wird, weil die UN-Vollversammlung eine Resolution verabschiedet und darin Terrorakte gegen den Luftverkehr scharf verurteilt. Außerdem fordert sie alle Staaten nachdrücklich auf, die bestehenden Konventionen einzuhalten.
Die Entführung der »Landshut« bleibt der deutschen Öffentlichkeit noch lange im Gedächtnis und macht vor allem die bis dato recht unscheinbar agierende GSG 9 bekannt. Nach dem Drama in Mogadischu erwägt die Bundesregierung, mit sogenannten Sky Marshals bewaffnete Sicherheitsbeamte in Flugzeugen einzusetzen. Die VC spricht sich strikt dagegen aus und argumentiert, dass zunächst die Sicherheitsmaßnahmen am Boden verbessert werden müssen. Und tatsächlich gibt es für die nächsten 20 Jahre kein bewaffnetes Personal an Bord.
Im Januar 1978 erreicht die VC-Mitglieder die traurige Nachricht vom plötzlichen Tod ihres erst 39 Jahre alten Präsidenten Hans-Dieter Gades. Nach einem Dienstflug nach Karatschi in Pakistan stirbt Gades am 1. Januar 1978 an Herzversagen. Damit verliert die VC ihre bislang prägende Figur.
Vor dem Beginn der Fliegerschule ist Gades als Technischer Zeichner tätig gewesen, und schon während des 8. Pilotenlehrgangs hat er sich stark für die Interessen seiner Kollegen eingesetzt. Er ist in der Personalvertretung engagiert, wird Vorsitzender der Gesamtvertretung des Fliegenden Personals der Deutschen Lufthansa, Mitglied der Tarifkommission und schließlich Mitbegründer der Vereinigung Cockpit. Als ihr Präsident gibt er Interviews zu allen Fragen des Berufsstands und ist, trotz aller Konflikte, auch von der Gegenseite hoch angesehen.
Seinen Kollegen gilt er als kreativer, konfliktfreudiger Redner und überzeugter Demokrat: »Kommandant sein hieß für ihn, einer unter Gleichen zu sein«, beschreibt Vorstandskollege Werner Joost ihn in seinem Nachruf. Seine Kollegen schätzen vor allem sein offenes Ohr für ihre Probleme und seine Gastfreundschaft. »Zu Gades kannst Du kommen, ganz gleich was auch geschehen sei, ein Wurstbrot und ein Bett sind Dir zu jeder Tages- und Nachtzeit sicher«, so bringt es ein Weggefährte auf den Punkt.
Die Nachricht von Gades' Tod schockiert die VC-Mitglieder, doch sie sind fest entschlossen, die Arbeit fortzusetzen. Aufgaben gibt es schließlich genug: Die VC erarbeitet unter anderem ein neues Umschulungsmodell für Co-Piloten und erreicht damit eine deutliche Verbesserung für diese Mitgliedergruppe. Bei der IFALPA-Tagung im April 1978 in Frankfurt am Main regt die VC zudem an, pro Passagier künftig nur noch ein Stück Handgepäck zu erlauben. Die Konferenz beschließt diese Regelung. Außerdem vertritt sie – ausgelöst durch die Entführung der »Landshut« im Vorjahr – die Haltung, dass in völlig ausweglosen Situationen der Angriff auf ein gekapertes Flugzeug zulässig sei.
Gleichzeitig gehen die tarifpolitischen Auseinandersetzungen mit der konkurrierenden ÖTV weiter. Die VC dokumentiert das »feindliche Verhalten« der ÖTV während der Tarifrunde 1977 und schlägt der IFALPA vor, die ÖTV aufgrund des Verstoßes gegen die Satzung aus der Organisation auszuschließen. Darauf lässt es die ÖTV nicht ankommen: Am 3. Mai 1978 tritt sie aus der IFALPA aus. Die VC ist damit als alleinige Vertretung der deutschen Kollegen beim Weltpilotenverband anerkannt.
1979, im Jahr ihres zehnjährigen Bestehens, zählt die Vereinigung Cockpit mehr als 2000 Mitglieder. In diesem Jahr veröffentlicht sie erstmals eine Mängelliste deutscher Flughäfen. Die Flughäfen Frankfurt, Bremen, Saarbrücken und Stuttgart bezeichnet sie darin als »sehr mangelhaft«, Hamburg, Hannover und Köln/Bonn galten als »mangelhaft«. Die regelmäßig erstellte VC-Mängelliste findet große Aufmerksamkeit in den Medien und führt in den folgenden Jahren zu vielen Verbesserungen.