Die 1990er Jahre beginnen mit Turbulenzen: Weltweit leidet die Wirtschaft unter den Folgen des New Yorker Börsencrashs von 1987. Eine globale Krise kann zwar gerade noch verhindert werden, doch es herrscht eine lähmende Rezession. Der Ölpreis steigt drastisch, auch als Folge des Golfkriegs im Irak 1991. Die Fluggesellschaften leiden unter weltweit sinkenden Passagierzahlen; Überkapazitäten und Deregulierung insbesondere auf der Nordatlantikstrecke erhöhen den Preisdruck. Auch deutsche Airlines geraten ins Straucheln – insbesondere die Lufthansa als größte von ihnen.
1991 schreibt die staatliche Airline herbe Verluste, es droht die Insolvenz. Mitte 1992 beginnt sie ein hartes Sanierungsprogramm, bei dem die Arbeitsplätze vieler Angestellter auf dem Spiel stehen – auch die der Piloten. Mit der Streichung von 8000 Vollzeitstellen, davon vielen in der Verwaltung, will der Konzern knapp 300 Millionen Mark einsparen. VC und DAG erreichen in Verhandlungen einiges: Arbeitszeitreduzierung, Sonderurlaube, Aufhebungsverträge und diverse Modelle zur Frühpensionierung. So verhindern sie betriebsbedingte Kündigungen.
Um ihre Arbeitsplätze langfristig zu erhalten, stimmen die Piloten nach harten Verhandlungen umfassenden Zugeständnissen wie einer »Nullrunde« für 1993 zu. Während der Sanierung kommt es allerdings immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Piloten und Kabinenpersonal – und in der Folge auch zwischen VC und DAG.
Als Kapitän Klaus Petzold am 30. April 1991 die Tupolew-134 in Berlin-Schönefeld aufsetzt, endet die letzte Reise der Interflug. Offiziell existiert die 1958 gegründete Fluggesellschaft der DDR ohnehin nicht mehr: Bereits am 7. Februar 1991 hat die Treuhand ihre Auflösung beschlossen. Viele ihrer Piloten sind in der VC organisiert.
Bis zu ihrer Abwicklung hat die Interflug weltweite Flüge angeboten, hauptsächlich in die sozialistischen Länder, darunter Kuba und Vietnam, sowie in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Beliebt ist die Airline insbesondere bei Passagieren, die von West-Berlin aus starten, denn die Tickets kosten bis zu 70 Prozent weniger als bei westlichen Fluggesellschaften.
Als in den 1980er Jahren die Ölpreise steigen, wird der Flugbetrieb zunehmend unwirtschaftlich. In der DDR dürfen aufgrund politischer Restriktionen ohnehin nur wenige Menschen fliegen. Die Interflug gerät in die Krise und erleidet Millionenverluste. Ihre Maschinen erfüllen zudem nicht die erhöhten Lärmschutzauflagen des Westens. Die Flugzeugindustrie der Sowjetunion kann keine modernen Flugzeuge liefern, eigene Entwicklungen der DDR gibt es nicht.
Die Interflug kämpft mit Hindernissen: Das Modell Iljuschin Il-62, das erste Langstrecken-Verkehrsflugzeug der Sowjetunion mit Strahltriebwerken, schafft die Strecke nach Kuba häufig nicht mehr ohne Zwischenstopp in Neufundland, was DDR-Bürger immer wieder zur »Republikflucht« nutzen. 1989 liefert schließlich der Airbus-Konzern drei A310-Maschinen an die Interflug. Zivilflugzeuge sind gerade von der sogenannten CoCom-Liste gestrichen. Der Koordinationsausschuss für Ost-West-Handel (Coordinating Committee on Multilateral Export Controls, CoCom) der Nato-Staaten beschränkt den Export westlicher Technologie in sozialistische Länder.
Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 scheitern mehrere Rettungsversuche und Übernahmen. Die Interflug schreibt weiter rote Zahlen – eine Million Mark pro Woche. So wächst das Defizit auf insgesamt 200 Millionen Mark, das Ende der DDR-Airline ist unvermeidlich.
Die drei Airbus-A310-Maschinen werden schließlich an die Flugbereitschaft des Bundesverteidigungsministeriums verkauft. Die »Konrad Adenauer« fliegt Bundeskanzler bzw. Bundeskanzlerin bis 2011 zu Staatsbesuchen, die »Theodor Heuss« dient als Ersatz, und die »Kurt Schumacher« transportiert bis heute Soldaten. Und was wurde aus den zu diesem Zeitpunkt noch 400 der vormals 8000 Interflug-Mitarbeiter – Flugkapitäne, Co-Piloten, Flugingenieure und Navigatoren? Etwa ein Drittel verlässt die Luftfahrt, die Hälfte davon aus Altersgründen; ein weiteres Drittel kommt bei kleinen Airlines in Deutschland und Europa unter oder arbeitet in »luftfahrtnahen« Berufen – mitunter auch als Crewbus-Fahrer oder Ramp-Agent. Lediglich ein Drittel der ehemaligen Interflug-Piloten findet wieder einen qualifizierten Job.
Trotz zunehmender Spannungen planen VC und DAG eine gemeinsame Aktion, an der sich auch die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) und die ÖTV beteiligen: Im März 1993 versammeln sich streikende Beschäftigte auf dem Münsterplatz in Bonn. Mit der Parole »Wir Piloten wollen fliegen, nicht rausfliegen« protestieren die Piloten gegen ein geplantes Luftverkehrsabkommen zwischen Deutschland und den USA. Es soll eine Schieflage ausgleichen: US-amerikanische Airlines fliegen 1992 Frankfurt von zehn verschiedenen Flughäfen aus an, zu denen die Lufthansa aber keine Anflugrechte besitzt. Nach der deutschen Wiedervereinigung erhalten die US-Fluggesellschaften zusätzliche Anflugpunkte, sodass dreimal mehr US-amerikanische Flugzeuge den Nordatlantik überqueren als deutsche.
Deutschland und die USA einigen sich schließlich auf eine Übergangslösung mit zeitweiligen Beschränkungen der amerikanischen Airlines und neuen Freiheiten für die deutschen. Stufenweise sollen die Kapazitäten auf beiden Seiten angehoben werden, bis zur vollständigen Deregulierung nach vier Jahren.
Gegen dieses »Open Skies«-Abkommen richtet sich der gemeinsame Protest von VC, DAG, UFO und ÖTV. Sie fürchten ähnliche Verhältnisse wie in den 1980er Jahren in den USA. In Europa zeichnen sich die Folgen der Deregulierung – harter Preiskampf, Insolvenzen und Konzentration von Airlines, »Ausflaggen«, Verlust von Arbeitsplätzen – bereits ab.
Das 1992 einsetzende Sanierungsprogramm ist der erste Schritt zur vollständigen Privatisierung der Lufthansa, bei der einzelne Unternehmensbereiche in rechtlich selbstständige Tochtergesellschaften ausgegliedert werden. Als die Privatisierung 1997 abgeschlossen ist, liegt die Bundesbeteiligung an der Lufthansa bei unter 50,1 Prozent. Das schafft für die Angestellten ein Problem, denn die Mitgliedschaft der Lufthansa in der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL), die die Zusatzversorgungen der Mitarbeiter regelt, erlischt.
VC und DAG verhandeln nun intensiv mit ÖTV und der Bundesregierung, vor allem über die Altersversorgung. Das Ergebnis: Der Bund übernimmt die bereits bestehenden Rentenverpflichtungen – ähnlich wie bei der Bahn und der Post, die ebenfalls in den 1990er Jahren privatisiert werden. Die Lufthansa muss alle künftigen Rentenansprüche für ihre ab 1995 eingestellten Mitarbeiter sofort zurückstellen – insgesamt 1,1 Milliarden Mark.
Berlin, 27. Mai 1994. Einen Tag vor der Eröffnung der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung verunglückt der 44-jährige russische Testpilot Alexander S. Wjatkin tödlich. Seine vierköpfige Familie in Moskau gerät dadurch in existenzielle Not. Einige VC-Mitglieder, Aussteller und Verbände initiieren die »Aktion Alexander« und sammeln Geld für die Hinterbliebenen. 35.000 Mark an Spenden bilden die Kapitalgrundlage der »Stiftung Mayday«, die am 7. Dezember 1994 in Frankfurt am Main gegründet wird.
Die Stiftung unterstützt in Not geratene Piloten und ihre Familien materiell und ideell, oft über viele Jahre. Nicht nur bei tödlichen Abstürzen wird die Stiftung aktiv. Auch Critical Incidents, unerwartete Zwischenfälle, können Betroffene schwer belasten und im schlimmsten Fall zu chronischen Erkrankungen oder psychischen Störungen führen. Die Stiftung führt daher ein Programm zur Stressbewältigung nach solchen Zwischenfällen ein (CISM, Critical Incident Stress Management). Sie hat mit Psychologen und Piloten ein Betreuungsnetz aufgebaut, das rund um die Uhr für strukturierte Nachbesprechungen (Debriefings) zur Verfügung steht. Bis 2019 bot die von der VC mitinitiierte Stiftung Mayday in mindestens 1500 Fällen schnelle, unbürokratische Hilfe. Hinzu kommen über 3000 Betreuungsfälle im Rahmen des CISM-Programms, in denen über 12.000 Besatzungsmitglieder verschiedene Hilfsangebote in Anspruch genommen haben, sowie mehr als 200 Großschadenereignisse mit mehr als 7.500 betroffenen Besatzungsmitgliedern.
Die Zusammenarbeit von VC und DAG gelingt bei der Lufthansa-Privatisierung noch einmal, doch die Differenzen werden immer deutlicher, auch weil sich die DAG inzwischen der konkurrierenden ÖTV annähert. 1994 schließt die DAG einen Kooperationsvertrag mit der ÖTV, im Jahr darauf mit der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) – erste Schritte, die 2001 schließlich zur Gründung von ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft führen.
Die Piloten fühlen sich Mitte der 1990er Jahre in dieser Konstellation nicht mehr gut vertreten. Sie sind unzufrieden mit den Ergebnissen der Lufthansa-Tarifrunden. Ende 1996/97 eskaliert die Situation, als die Piloten zweimal ohne die Genehmigung des DAG-Bundesvorstands streiken. Während der Tarifrunde im Jahr darauf bereiten die Piloten in der VC/DAG-Tarifkommission strategisch die Eigenständigkeit vor. Dieses Vorgehen ist umstritten, der VC-Vorstand diskutiert heftig darüber.
Anfang 1999 schließlich stimmen die VC-Mitglieder über die Loslösung von der DAG ab. Eine große Mehrheit spricht sich dafür aus. Zum 30. Juni 1999 endet der Kooperationsvertrag mit der DAG einvernehmlich. Dies ist ein großer Schritt für die VC, die nun nicht mehr nur Berufsverband ist, sondern auch eine eigenständige Gewerkschaft.
Auf die VC wartet eine große Aufgabe: Sie muss eine eigene Tarifabteilung aufbauen, um Tarifverhandlungen wirkungsvoll zu führen. Michael Tarp übernimmt die Leitung der Tarifpolitik, die VC stellt rasch einen Verhandlungsführer und weitere Mitarbeiter in der Geschäftsstelle ein. Die deutschen Airlines – darunter Eurowings, dba, Lufthansa, Aero Lloyd und Hapag-Lloyd – erkennen die VC als Tarifpartner an.